Tag der Deutschen Einheit 35 Jahre unvollendete Einheit - Menschen zuhören, Sorgen nehmen, Zukunft schaffen

35 Jahre nach der Wiedervereinigung zieht die IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt Bilanz: Ostdeutschland steht nicht am Rand der Republik – im Gegenteil.

german-flag-in-front-of-the-german-parliament-bun-2025-03-27-00-09-24-utc

2. Oktober 2025 2. Oktober 2025


Hier wird sichtbar, wie sehr unsere Demokratie davon abhängt, dass Versprechen von Gleichwertigkeit und sozialer Teilhabe tatsächlich eingelöst werden. Die ökonomischen Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte sind in vielen Landesteilen unverkennbar, doch die soziale Realität bleibt widersprüchlich. Der Tag der Deutschen Einheit ist deshalb kein Anlass zur Selbstzufriedenheit, sondern Mahnung, das Versprechen von Gleichwertigkeit als dauerhafte Aufgabe ernst zu nehmen. „Die Einheit von 1990 war ein historisches Ereignis, das Grenzen überwand und Hoffnungen weckte. Doch die eigentliche Einheit entsteht nicht in Jahrestagen und Feierstunden, sondern jeden Tag neu – in Schulen, in Betrieben, in Rathäusern, in Familien. Und dort zeigt sich, dass gleiche Rechte, gleiche Chancen und gleiche Anerkennung noch längst nicht selbstverständlich sind. Deshalb ist der 3. Oktober kein Tag der Selbstzufriedenheit, sondern eine Mahnung: Es gibt verdammt viel zu tun!“, betont Thorsten Gröger, Bezirksleiter der IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt.

Die wirtschaftliche Entwicklung vieler ostdeutscher Regionen ist durchaus dynamisch: Produktivität steigt, Investitionen fließen, Zukunftsbranchen wie Halbleiter, Batterietechnologien und Wasserstoff gewinnen an Gewicht. Zugleich sind die Schattenseiten deutlich: Konjunktur- und Strukturkrisen treffen ostdeutsche Standorte oft besonders hart. Gescheiterte Projekte – wie zuletzt bei der geplanten Intel-Ansiedlung in Magdeburg – schüren Zweifel an den Perspektiven. Hinzu kommen fortbestehende Unterschiede: Das Medianvermögen ostdeutscher Haushalte liegt weit unter westdeutschem Niveau, Tarifbindung und Mitbestimmung sind schwächer ausgeprägt, und viele Schlüsselpositionen in Wirtschaft und Politik bleiben westlich dominiert.

Diese Unterschiede sind keine abstrakten Kennziffern, sondern bestimmen den Alltag. Wer gleiche Arbeit leistet und schlechter bezahlt wird oder erfährt, dass Spitzenpositionen verschlossen bleiben, empfindet Einheit nicht als Realität, sondern als unvollendetes Projekt. Die Folgen zeigen sich auch politisch. Studien belegen: Das Vertrauen in Institutionen ist in Ostdeutschland schwächer, die Unzufriedenheit mit demokratischen Prozessen größer. Viele Menschen erleben Distanz, fühlen sich nicht gehört und nicht vertreten. „Demokratie wird nicht in Sonntagsreden verteidigt, sondern dort, wo Menschen erleben, dass ihre Herkunft, ihre Arbeit und ihre Stimme Gewicht haben. Wer den Osten auf das Schlagwort des Abgehängtseins reduziert, verkennt die Realität. Die eigentlichen Ungleichheiten liegen in den Zugängen – zu Arbeit, zu Vermögen, zu Führungspositionen, zu Teilhabe“, so Gröger.

Vor diesem Hintergrund sind die Landtagswahlen 2026 in Sachsen-Anhalt weit mehr als ein Wahltermin. Sie sind kein Naturereignis und auch nicht bloß eine Bühne für Polarisierung. Sie spiegeln gesellschaftliche Stimmungen wider, die sich über Jahre verfestigt haben: Sorgen, Ängste, Misstrauen. Diese Gefühle pauschal abzutun, wäre ebenso falsch wie sie zu stigmatisieren. Genauso gefährlich ist es jedoch, jene zu verharmlosen, die dieses Unbehagen bewusst instrumentalisieren und in offene Demokratiefeindlichkeit verkehren.

Die Aufgabe liegt dazwischen: zuzuhören, ernst zu nehmen und politische Antworten zu geben – ohne den klaren Widerspruch gegen geistige Brandstifter zu scheuen. Und klar ist auch: Komplexe gesellschaftliche Fragen lassen sich nicht mit simplen Parolen beantworten. Wer vorgibt, ein einzelner Hebel reiche aus, um Arbeitsplätze zu sichern oder Vertrauen zurückzugewinnen, vereinfacht nicht nur gefährlich – er schwächt auch die demokratische Kultur. Demokratie und soziale Gerechtigkeit verlangen differenzierte, mühsam errungene Lösungen. „Wer über den Osten spricht, darf nicht nur von Defiziten reden. Hier steckt enormes Potenzial, hier entstehen Innovationen, die für das ganze Land entscheidend sind. Wenn wir Ostdeutschland immer nur als Sorgenfall behandeln, vergeben wir Chancen, die uns allen zugutekommen könnten!“, unterstreicht Gröger.

Für die IG Metall ist Einheit deshalb keine vollendete Erfolgsgeschichte, sondern ein andauernder Gestaltungsauftrag. Sie bedeutet: gleiche Arbeit gleich zu entlohnen, Tarifbindung zu stärken, Mitbestimmung zu sichern und Beschäftigung zu verteidigen. Sie verlangt eine Politik, die Industrie, Energie und Soziales verzahnt, damit Wertschöpfung nicht nur entsteht, sondern in den Regionen bleibt. Und sie verlangt Repräsentation: Ostdeutsche Biografien müssen selbstverständlich in Chefetagen, Ministerien und Medienhäusern vertreten sein.