Auswertungen des „DGB-Index Gute Arbeit 2024“ und der Krankenkassen zeigen: Die psychische Belastung in der Arbeitswelt hat ein Ausmaß erreicht, das nicht mehr als individuelle Herausforderung betrachtet werden kann. Sie ist ein systemisches Problem – ein Spiegel der sozialen, technologischen und organisatorischen Umbrüche unserer Zeit.
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Laut DGB-Index gaben 63 Prozent der Beschäftigten an, im vergangenen Jahr gearbeitet zu haben, obwohl sie krank waren – fast die Hälfte davon eine ganze Woche oder länger. Diese Entwicklung des sogenannten Präsentismus ist Ausdruck einer tief verankerten Unsicherheit: Viele Menschen fürchten die Konsequenzen ihrer Abwesenheit stärker als die Folgen ihrer Erkrankung. Zugleich dokumentieren Reports einen weiterhin hohen Anteil psychisch bedingter Fehlzeiten – „die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Störungen stieg 2024 im Vergleich zum Vorjahr um 4,2 Prozent […] was einer Zunahme der Fehlzeiten um rund 0,15 Tage je Erwerbsperson und Jahr entspricht“, heißt es etwa von Techniker Krankenkasse (2025). Auch die DAK (2025) bestätigt diesen Trend: Im Jahr 2024 belegten psychische Erkrankungen den dritten Rang unter den Krankheitsarten mit den höchsten Arbeitsausfällen. Sie waren für 17,4 % aller Krankheitstage verantwortlich.
Hinter diesen Zahlen steht keine Schwäche, sondern unter anderem eine schleichende Erosion gesunder Arbeitsbedingungen. Sie steht für das Auseinanderdriften von Verantwortung und Einfluss, für Verdichtung, Unsicherheit und den Verlust von Gestaltungsspielraum. Psychische Belastung ist kein Randphänomen, sondern ein strukturelles Symptom der modernen Arbeitsorganisation. Die Gleichzeitigkeit von Rationalisierung, Fachkräftemangel und digitaler Beschleunigung erzeugt einen permanenten Druck. In zahlreichen Betrieben gilt: Es gibt immer zu wenig Zeit, zu wenig Personal, zu wenig Planbarkeit.
Die Folge ist eine Arbeitskultur, in der Pausen, Erholung und Krankheit als Störung wahrgenommen werden – statt als Teil verantwortlicher Arbeitsgestaltung. Die Belastungsindikatoren steigen in nahezu allen Sektoren, von der Industrie bis zur Dienstleistung. Besonders gefährdet sind Tätigkeiten mit hoher Verantwortung und geringer Planbarkeit – dort, wo Menschen Verantwortung für andere tragen oder Prozesse permanent überwachen müssen.
Digitalisierung, Klimawandel und Künstliche Intelligenz verändern die Arbeitswelt tiefgreifend. Doch anstatt Entlastung zu schaffen, führt technologische Beschleunigung vielerorts zu noch größerer Verdichtung: neue Tools, neue Erwartungen, mehr Kontrolle, mehr Unruhe. Technik wird zu oft eingeführt, um Effizienz zu steigern – nicht, um den Menschen zu entlasten. Wenn Künstliche Intelligenz zu einem Instrument der Leistungsverdichtung wird, droht eine neue Stufe der psychischen Überforderung.
All das hat auch eine ökonomische Ebene: Nach Berechnungen unterschiedlicher Institute verursachen psychisch bedingte Fehlzeiten jährlich Milliardenkosten an Produktionsausfällen und Wertschöpfungsverlusten. Doch die Zahlen sind nur die sichtbare Spitze. Der eigentliche Schaden liegt in der schwindenden Energie, Kreativität und Identifikation der Beschäftigten. Psychische Gesundheit ist längst ein Schlüsselindikator für wirtschaftliche Resilienz. Im Umkehrschluss gilt: Unternehmen sollten selbst den größtmöglichen Anspruch an Schutz der physischen und psychischen Gesundheit ihrer Beschäftigten haben.
„Wer in 2025 ernsthaft über Karenztage diskutiert, hat nichts verstanden“, mahnt Thorsten Gröger, Bezirksleiter der IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. „Während die Beschäftigten unter wachsendem Druck arbeiten und psychische Belastungen Rekordwerte erreichen, soll ausgerechnet am Schutz der Kranken gespart. Das ist nicht Reform, das ist Rückschritt – auf dem Rücken derer, die dieses Land am Laufen halten.“ Gröger fordert klare Konsequenzen: „Gesundheit ist kein Luxus und kein Kostenfaktor, sondern ein Grundrecht. Statt Beschäftigte für Krankheit zu bestrafen, braucht es endlich mehr Prävention, mehr Unterstützung und eine Gesundheitsversorgung, die funktioniert. Wer an der Solidarität im Krankheitsfall rüttelt, gefährdet den sozialen Frieden.“
Gesunde Arbeit entsteht dort, wo Beschäftigte mitgestalten können, wo Sicherheit, Vertrauen und Respekt den Alltag prägen. Die IG Metall fordert Politik und Arbeitgeber auf, psychische Gesundheit endlich als wichtiges Fundament anzuerkennen – denn die Art, wie wir arbeiten, entscheidet darüber, wie wir leben und wie gerecht unsere Gesellschaft ist. Psychische Erkrankungen dürfen nicht länger tabuisiert oder als individuelles Problem abgetan werden. Die IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt fordert breite Aufklärung, Entstigmatisierung und eine Gesundheitsversorgung, die allen offensteht.
Was jetzt zu tun ist:
1. Psychische Gefährdungsbeurteilung endlich durchsetzen. Sie ist seit Jahren gesetzlich vorgeschrieben – und in vielen Betrieben dennoch reine Formalie. Es braucht klare Standards, verbindliche Kontrollen und spürbare Konsequenzen für Unternehmen, die sich der Verantwortung entziehen. Gesundheitsschutz ist kein Betriebsgeheimnis, sondern Pflicht.
2. Arbeitszeitpolitik als Gesundheitsschutz. Formen der Arbeitsverkürzung, gerechte Arbeitszeiten und echte Pausen sind keine Privilegien, sondern Prävention. Wo Menschen Zeit für Erholung, Familie und soziales Leben haben, sinken Ausfälle nachweislich. Gute Arbeit braucht planbare Arbeitszeiten – und das Recht, auch einmal abzuschalten.
3. Mitbestimmung bei digitaler Arbeit und KI. Neue Technologien müssen mit den Beschäftigten gestaltet werden, nicht gegen sie. Algorithmische Steuerung und digitale Kontrolle dürfen nicht zum Dauerstress führen. Deshalb: volle Transparenz, Mitspracherechte und Gesundheitsfolgenabschätzungen für KI-Systeme.
4. Führungskultur im Wandel. Führung heißt heute: Belastung erkennen, Offenheit fördern, Vertrauen ermöglichen. Eine Kultur der Angst, Kontrolle und Überforderung ist kein Erfolgsfaktor – sie ist ein Krankmacher. Gesunde Betriebe brauchen Führungskräfte, die Verantwortung für Menschen übernehmen, nicht nur für Kennzahlen.
5. Gesellschaftliche Verantwortung. Staatliche Fördergelder, Investitions- und Transformationsprogramme müssen an soziale Kriterien gebunden werden – an gute Arbeit, Mitbestimmung und Gesundheitsschutz. Wirtschaftliche Modernisierung darf nie auf Kosten der Beschäftigten gehen.
6. Stärkung der Gesundheitsversorgung – statt Kürzungsdebatten. Psychische Gesundheit braucht einen starken Sozialstaat. Es muss leichter werden, Hilfe zu finden – durch mehr psychologische Angebote, kürzere Wartezeiten auf Therapieplätze, betriebliche Beratungsstrukturen und eine bessere Verzahnung von Prävention und Versorgung.