Die IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt macht zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung unmissverständlich klar: Wer Inklusion nur in Reden beschwört, aber im Alltag keine verbindlichen Rahmenbedingungen schafft, verhindert nicht nur Teilhabe – er verspielt auch gesellschaftliche Fairness und ökonomisches Potenzial.
In Deutschland lebt über jede zehnte Person mit einer Schwerbehinderung. Dennoch liegt der Anteil schwerbehinderter Beschäftigter in der Privatwirtschaft bei nur rund 4,5 Prozent – mit sinkender Tendenz. Noch alarmierender ist: Über die Hälfte der beschäftigungspflichtigen Betriebe kommt ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Einstellung schwerbehinderter Menschen schlicht nicht nach. Ein Viertel der Betriebe sind Totalverweigerer. Anstatt dies zum Anlass zu nehmen, Sanktionen zu schärfen, wurde 2023 dieses gesetzwidrige Verhalten aus dem Katalog der Ordnungswidrigkeiten gestrichen. Aus Sicht der IG Metall ist das ein Rückschritt in einer Zeit, in der Inklusion endlich entschlossen vorangetrieben werden müsste. „Teilhabe ist kein Almosen, sondern ein unveräußerliches Recht“, betont IG Metall-Bezirksleiter Thorsten Gröger. „Wer Menschen mit Behinderung nicht berücksichtigt, errichtet nicht nur Barrieren für andere – sondern sabotiert die Zukunftsfähigkeit seiner eigenen Organisation. Sozialer Mangel wird zum Fachkräftemangel – und den können wir uns weder gesellschaftlich noch wirtschaftlich länger leisten.“
Die IG Metall fordert daher eine konsequente Neuausrichtung der Inklusionspolitik – und benennt konkrete politische Schritte, die nicht länger aufgeschoben werden dürfen. Dazu gehört zunächst eine substanzielle Stärkung der Schwerbehindertenvertretungen (SBV). Bislang bleiben sie bei vielen personellen Entscheidungen außen vor, obwohl sie im Sinne der Betroffenen frühzeitig mitwirken müssten. Die IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt fordert daher, dass Schwerbehindertenvertretungen bei sämtlichen personellen Einzelmaßnahmen – wie Einstellungen, Versetzungen oder Eingruppierungen – die gleichen Mitwirkungsrechte erhalten wie Betriebsräte gemäß § 99 des Betriebsverfassungsgesetzes. Die Praxis zeigt: Frühzeitige Beteiligung schützt vor Fehlentscheidungen, erhöht die Transparenz und fördert tatsächliche Teilhabe.
Ein zweites zentrales Handlungsfeld ist das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM). Hier zeigt sich allzu oft: Zwar ist das BEM gesetzlich vorgeschrieben – aber in der Praxis häufig unverbindlich, lückenhaft oder schlicht folgenlos. Deshalb fordert die IG Metall die rechtliche Stärkung des BEM in drei zentralen Punkten. Erstens muss betroffenen Beschäftigten ein individueller, einklagbarer Anspruch auf ein BEM-Verfahren garantiert werden. Zweitens sind qualitative Mindeststandards notwendig, um den Prozess nachvollziehbar, fair und zielführend zu gestalten – etwa durch frühzeitige Einbindung der SBV, eine transparente Dokumentation sowie Vertraulichkeit. Drittens braucht es klare Konsequenzen, wenn Arbeitgeber dieser Verpflichtung nicht nachkommen: Etwa die Verlängerung der Lohnfortzahlung auf bis zu zwölf Wochen oder rechtliche Hürden für krankheitsbedingte Kündigungen. Denn niemandem darf gekündigt werden, nur weil Arbeitgeber sich ihrer Verantwortung durch Unterlassen entziehen.
Ein weiterer, bislang chronisch vernachlässigter Bereich ist die bauliche und technische Barrierefreiheit in Arbeitsstätten. Nach aktueller Rechtslage sind Unternehmen lediglich dann verpflichtet, Arbeitsplätze barrierefrei zu gestalten, wenn eine behinderte Person bereits beschäftigt ist – und dann auch nur für den konkret betroffenen Arbeitsplatz. Für die IG Metall ist das keine Inklusionspolitik, sondern ein Beschäftigungshemmnis: Wer erst umbaut, wenn jemand mit Behinderung sich bereits beworben oder eingestellt ist, schafft eine unsichtbare Schwelle, die viele Menschen gar nicht erst überwinden können. Barrierefreiheit muss deshalb zur Voraussetzung in allen Arbeitsstätten werden – unabhängig vom konkreten Einzelfall. Nur so entsteht eine Arbeitswelt, die auch für Menschen mit Behinderung erreichbar und gestaltbar ist.
Die IG Metall macht deutlich: Inklusion darf sich nicht in gut gemeinten Sonntagsreden erschöpfen. Sie muss sich im Alltag beweisen – in Gesetzen und in der Unternehmenskultur. Es darf nicht länger vom Zufall abhängen, ob ein Mensch mit Behinderung auf einen barrierefreien Arbeitsplatz, ein faires Auswahlverfahren oder eine kompetente Schwerbehindertenvertretung trifft. Inklusion braucht System – nicht Goodwill.
Umso alarmierender ist, dass viele Gesetzesinitiativen zur Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderung in den letzten Jahren auf der Strecke geblieben sind. „Versprochen, verschleppt, vergessen – so sieht viel zu oft die politische Praxis in Sachen Inklusion aus“, kritisiert Thorsten Gröger. „Doch wir sagen: Barrierefreiheit darf nicht an der Eingangstür enden!“ Denn die Realität ist: Die meisten Behinderungen entstehen im Laufe des Erwerbslebens – durch Krankheit, Unfall oder psychische Belastung. Inklusion betrifft daher nicht eine Minderheit, sondern ist Alltagsthema für alle Beschäftigten. Sie ist weder Luxus noch Nischenprojekt – sondern Ausdruck einer Gesellschaft, die niemanden zurücklässt.
In einer Zeit, in der populistische Spaltungslinien zunehmen und soziale Unsicherheiten wachsen, ist der Umgang mit Menschen mit Behinderung ein Lackmustest für die Substanz unserer Demokratie. Eine Gesellschaft, die Vielfalt nicht schützt, verliert ihre Zukunft. Und eine Wirtschaft, die auf Teilhabe verzichtet, verzichtet auf Innovationskraft, Loyalität und Menschlichkeit.
Die IG Metall steht für eine Arbeitswelt, in der niemand außen vor bleibt – weder beim Entgelt, noch beim Lernen, noch beim Leben. Inklusion beginnt nicht am Rednerpult – sondern am Arbeitsplatz. Und sie endet erst dann, wenn gleiche Rechte für alle nicht mehr eingefordert werden müssen – sondern selbstverständlich sind.
Laut der IG Metall-Umfrage erfüllt nur jeder zweite Betrieb (47 Prozent) in ihrem Organisationsbereich die gesetzliche Pflicht zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen. Mittelgroße Unternehmen mit 100 bis 1000 Beschäftigten halten die vorgeschriebene Quote von mindestens 5 Prozent nur zu 44 Prozent ein. Kleine Betriebe (bis 100 Beschäftigte) und große Unternehmen (über 1000 Beschäftigte) liegen bei 56 Prozent.
Die Online-Befragung erfolgte unter 994 Betrieben mit einer Schwerbehindertenvertretung. Befragungszeitraum war der 10. bis 23.11.2025.