Herbst der Reformen darf nicht zum Winter der Entlassungen werden IG Metall ruft zu sichtbaren Kundgebungen und betrieblichen Aktionen auf

Jeden Tag verschwindet ein Stück industrielles Deutschland – es sind rund 10.000 Industriearbeitsplätze pro Monat.

Streik Jungheinrich

5. Dezember 2025 5. Dezember 2025


Jeden Tag verschwindet ein Stück industrielles Deutschland – es sind rund 10.000 Industriearbeitsplätze pro Monat. Ein Werk schließt, Beschäftigte erhalten Aufhebungsverträge, eine Produktion wandert nach Osteuropa. Offiziell heißt das „Effizienzsteigerung“. In Wahrheit ist es ein Abbauprogramm mit Ansage. Während in den Chefetagen über Optimierung geredet wird, verlieren Menschen in den Werkshallen ihre Existenz. Und die Politik? Diskutiert zu lange, vertagt zu häufig, zaudert zu oft.

Die IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt zieht die Reißleine. Unter dem Motto „Advent, Advent – unsere Zukunft brennt!“ startet sie eine landesweite Kampagne gegen Stellenabbau, Sozialabbau und Standortschwächung. „Was wir gerade erleben, ist kein Strukturwandel – es ist ein Strukturbruch,“ warnt Thorsten Gröger, Bezirksleiter der IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. „Wir erleben nicht Wandel, sondern Rückzug. Werke werden verlagert, Belegschaften zerschlagen, ganze Regionen aufgegeben. Das nehmen wir nicht hin. Kanzler Merz sprach vom Herbst der Reformen – dieser darf nicht zum Winter der Entlassungen werden. Wer Industriearbeit vernichtet, vernichtet Zukunft.“

Deutschland verdankt seinen Wohlstand nicht künstlicher Intelligenz, sondern Schichtarbeit. Das verarbeitende Gewerbe erwirtschaftete 2024 rund 20 Prozent der Bruttowertschöpfung – mehr als in jedem anderen großen EU-Land. Doch das industrielle Rückgrat beginnt zu wanken. Allein in den vergangenen zwölf Monaten gingen über 100.000 Jobs in der Metall- und Elektroindustrie bundesweit verloren, in ähnlicher Größenordnung auch in anderen Industriezweigen.

Hinter jeder Zahl steckt ein Schicksal: Ein Facharbeiter, der mit 50 auf Jobsuche geht. Eine Auszubildende, deren Übernahme gestrichen wird. So darf Zukunft nicht aussehen. Während in den USA und China Milliarden in neue Werke fließen, lähmen hierzulande hohe Energiepreise und politische Unsicherheit jede Investitionsentscheidung. „In Berlin wird geredet – in den Betrieben wird geschlossen,“ kritisiert der Metaller. „Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Entscheidungsproblem. Und das liegt bei Kanzler und Vizekanzler gleichermaßen. Während die Politik sich in Nebenschauplätzen verliert, steht die industrielle Basis dieses Landes auf der Kippe.“

Die Folgen des industriellen Rückzugs sind dramatisch: Weniger Arbeitsplätze, weniger Steuereinnahmen, weniger Perspektiven – und ganze Regionen, die veröden. In Niedersachsen und Sachsen-Anhalt hängen hunderttausende Arbeitsplätze direkt an der Industrie, ein Vielfaches indirekt. Wenn hier Werke schließen, brechen Wertschöpfungsketten weg – von Zulieferern über Logistik bis zum Handwerk. „Jeder Arbeitsplatz in der Produktion sichert weitere,“ so die IG Metall. „Wer Werkstore schließt, reißt Dörfer, Familien und ganze Städte mit in den Abgrund.“

Die Gewerkschaft betont zugleich: Der Druck der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaft zeigt Wirkung. Nach Jahren des Stillstands kommt auch etwas Bewegung in das politische Handeln - wenn auch zu zögerlich. „Beim Industriestrompreis, bei der Förderung von Elektromobilität und zuletzt bei der Verlängerung des Kurzarbeitergeldes – überall sehen wir erste Schritte in die richtige Richtung“, so Gröger. „Aber diese Schritte kamen nicht aus heiterem Himmel. Sie kamen, weil wir als Gewerkschaft seit Jahren Druck machen, weil Beschäftigte auf die Straße gehen, weil wir nicht locker gelassen haben.“

Die IG Metall hatte bereits 2021 einen Industriestrompreis gefordert – jetzt ist die politische Debatte endlich angekommen. Auch die Inaussichtstellung einer neuen E-Auto-Förderkulisse sowie die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes gehen auf gewerkschaftlichen Druck zurück. „Das zeigt: Wer kämpft, kann etwas bewegen“, so der Bezirksleiter. „Aber es reicht nicht, wenn Bewegung das Ziel bleibt – jetzt muss sie Wirkung zeigen. Wir brauchen Tempo, Verbindlichkeit und den Mut, Industriepolitik endlich zur Chefsache zu machen.“

Die IG Metall nimmt Politik und Unternehmen gleichermaßen in die Pflicht. „Die schwarz-rote Bundesregierung liefert zu wenig Industriepolitik. Es braucht konkrete Maßnahmen, die in den Betrieben wirken – keine Beruhigungspillen. Ankündigungen alleine retten keine Jobs“, kritisiert der Metaller. „Man darf Entscheidungen nicht auf den Sankt-Nimmerleinstag in 2026 vertagen.“

Gleichzeitig richtet sich die Kritik auch an die Arbeitgeber: In früheren Krisen suchte man gemeinsam Lösungen – Arbeitgeber, Gewerkschaften und Politik. Heute wenden sich viele Chefetagen vom Standort Deutschland ab und lassen ihre Belegschaften allein. „Unternehmertum bedeutet Verantwortung. Eigentum verpflichtet – nicht zur Rendite um jeden Preis, sondern zum Erhalt von Arbeit und Perspektiven“, betont Gröger. „Wer von Transformation redet, darf nicht die Beschäftigten in Arbeitslose transformieren.“

Parallel ist eine bedenkliche Entwicklung zu beobachten: Während Konzerne Entlastungen und Subventionen fordern, sollen Beschäftigte offenbar die Zeche zahlen – längere Arbeitszeiten, spätere Renten, Karenztage bei Krankheit, weniger Feiertage. „Es ist zynisch, wenn von Leistung geredet wird, aber damit gemeint ist: mehr schuften, weniger bekommen,“ kritisiert Gröger. „Beschäftigte haben in jeder Krise Verantwortung getragen. Statt darüber zu reden, wie man Lasten gerechter verteilen kann, soll die Breite der Arbeitnehmerschaft immer mehr schultern.“

Gerade in Zeiten, in denen von den Beschäftigten viel abverlangt wird und sich ganze Biografien auf dem Arbeitsmarkt wandeln, braucht es ein Mehr – nicht ein Weniger – an Sicherheit und Stabilität. Wer den Sozialstaat schwächt, gefährdet Vertrauen und gesellschaftlichen Zusammenhalt – und am Ende auch die Industrie selbst.

Forderungen der IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt im Winter der Aktionen:

Öffentliche Gelder an klare Bedingungen knüpfen – Standorte und Beschäftigung sichern.

Staatliche Unterstützung darf es nur für Unternehmen geben, die sich verbindlich zu Beschäftigung, Tarifbindung und Standorttreue bekennen. Keine Förderung für Konzerne, die Standorte schließen oder Tarifbindung umgehen.

Energie bezahlbar machen. 

Ein Industriestrompreis von maximal 5 Cent/kWh ab 1. Januar 2026 – inklusive Netzentgelte – ist zwingend. Bewegung ist da, aber Umsetzung zählt und der Industriestrompreis muss zum Jahreswechsel Realität werden. Die Stromsteuer muss auf das europäische Mindestmaß sinken. Auch private Haushalte brauchen Entlastung.

Wertschöpfung in Europa halten. 

Öffentliche Aufträge und Fördermittel müssen an europäische Produktion gebunden werden. Es braucht eine verbindliche Local-Content-Strategie.

Zukunftsprogramm Automobil. 

Die in Aussicht gestellte Förderkulisse für Elektromobilität ist ein Schritt, aber kein Allheilmittel: Es braucht Social Leasing, günstigeren Ladestrom, schnelleren Netzausbau und mehr Ladepunkte. Auch die Unternehmen sind in der Pflicht die Attraktivität der Modelle zu schärfen.

Sozialstaat schützen – Transformation sozial gestalten. 

Kein Kahlschlag bei Arbeitszeit, Rente oder Entgeltfortzahlung. Wandel gelingt nur mit Sicherheit, nicht mit Angst.

Solidarische Finanzierung.

Vermögende und Kapitaleinkünfte müssen stärker beitragen; kleine und mittlere Einkommen gehören entlastet.

Die IG Metall reagiert mit einer breiten Protest- und Aktionswelle: Kundgebungen, Werkversammlungen und Demonstrationen – unter anderem in Wolfsburg, Hildesheim, Salzgitter und Hannover. Parallel startet eine Online-Petition, mit der Beschäftigte Flagge zeigen: openpetition.de/!ngjty

„Die Adventszeit wird ungemütlich für die Politik,“ kündigt Gröger an. „Wir bringen den Protest dorthin, wo er hingehört – auf die Straße, in die Werkshallen, auf die Marktplätze, vor die Parlamente. Wer glaubt, man könne diese Krise aussitzen, hat den Ernst der Lage nicht verstanden.“