Sachsen-Anhalt steht am Kipppunkt. Der demografische Wandel ist nichts Abstraktes, sondern ein konkret spürbares Risiko für die wirtschaftliche und soziale Zukunft ganzer Landstriche. Was in Tabellen als Bevölkerungsschrumpfung erscheint, bedeutet in der Realität: Der Bus kommt nicht mehr, der Supermarkt macht dicht, der Hausarzt zieht in den Ruhestand, es findet sich kein Nachfolger und der Betrieb drei Dörfer weiter findet keine Fachkraft mehr für die Frühschicht. Die IG Metall warnt eindringlich: Wird nicht entschlossen gegengesteuert, droht in vielen Regionen des Landes eine stille Aushöhlung – wirtschaftlich, sozial und infrastrukturell.
Schon jetzt ist Sachsen-Anhalt deutschlandweiter Negativrekordhalter bei bevorstehenden Renteneintritten. Fast 13 Prozent der Beschäftigten sind über 60 Jahre alt. Im Bau, in der Industrie, im Einzelhandel und in der Pflege droht innerhalb weniger Jahre ein gewaltiger personeller Aderlass. Die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer gehen in Rente – und viel zu wenige junge Menschen rücken nach. „In vielen Betrieben ist die Personaldecke heute zum Teil schon auf Kante genäht. Wenn nun ein signifikanter Prozentsatz der Beschäftigten binnen weniger Jahre in den Ruhestand wechselt, drohen nicht Lücken, sondern Abgründe – nicht irgendwann, sondern sehr bald“, sagt Thorsten Gröger, Bezirksleiter der IG Metall für Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. „Wer glaubt, Sachsen-Anhalts Zukunft lasse sich durch Abschottung sichern, verkennt die Realität: Ohne Zuwanderung wird dieses Land personell ausbluten.“
Denn die Zahlen sind eindeutig – und alarmierend: Zwischen 2023 und 2040 werden in Sachsen-Anhalt voraussichtlich rund 225.000 Kinder geboren, aber mehr als 608.000 Menschen versterben (Quelle: 8. Regionalisierte Bevölkerungsprognose für Sachsen-Anhalt). Schon im Jahr 2030 wird die Einwohnerzahl voraussichtlich unter die Zwei-Millionen-Marke fallen. Wo früher Industrie siedelte, Nahversorgung funktionierte und Familien lebten, droht heute vielerorts Rückzug. Infrastruktur wird dünner, soziale Dichte schwindet – und mit ihr die ökonomische Tragfähigkeit ganzer Regionen. „Erst schließt die Bankfiliale, dann verschwindet der Supermarkt. Der Hausarzt auf dem Land findet keine Nachfolge. So entsteht ein Teufelskreis, in dem Lebensqualität und wirtschaftliche Substanz gleichzeitig erodieren“, illustriert der Metaller die Auswirkungen des Demografieproblems.
Diese Entwicklung zieht sich durch alle Beschäftigtengruppen und gerade jene Tätigkeiten sind betroffen, die für das Funktionieren unserer Gesellschaft essenziell sind: Menschen, die Busse fahren, Dächer decken, pflegen, kassieren oder Rohre verlegen. Ohne sie steht buchstäblich alles still. Die IG Metall fordert daher einen klaren Kurswechsel in der Arbeitsmarkt- und Zuwanderungspolitik – sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene. „Wir brauchen qualifizierte und arbeitsmarktorientierte Zuwanderung, nicht als ideologisches Bekenntnis, sondern als ökonomische Notwendigkeit. Wer heute ‚Remigration‘ fordert, gefährdet bewusst den wirtschaftlichen Puls ganzer Landkreise! Wir brauchen eine echte Demografiedebatte statt populistischer Scheinlösungen!“, so Gröger.
Dort, wo Willkommenskultur mit guter Arbeit, Qualifizierung und Tarifbindung zusammengedacht wird, gelingt Zukunft. Ohne internationale Fach- und Arbeitskräfte wären viele Unternehmen im Land heute nicht mehr arbeitsfähig. „Die Debatte um Migration ist in Sachsen-Anhalt nicht nur eine gesellschaftliche, sondern längst eine wirtschaftspolitische Schlüsselfrage. Wer hier Nebelkerzen zündet, statt Probleme zu lösen, riskiert die Zukunft des Landes!“, so Gröger abschließend.
Die IG Metall benennt fünf zentrale Handlungsfelder:
- Zuwanderung gestalten, nicht verwalten: Ein Landesprogramm, das Zuwanderung nicht länger als administrative Herausforderung behandelt, sondern als strategisches Instrument zur Sicherung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zukunft begreift.
- Infrastruktur erhalten, Regionen stärken: Öffentliche Daseinsvorsorge – von Nahverkehr über Gesundheitsversorgung bis hin zu Schulen – muss in ländlichen Räumen gesichert und weiterentwickelt werden.
- Tarifbindung und Mitbestimmung ausweiten: Gute Arbeit ist Voraussetzung für gelingende Integration – das gilt für Fachkräfte ebenso wie für Menschen in unterstützenden Tätigkeiten.
- Berufliche Qualifizierung und Ausbildung fördern: Betriebliche Weiterbildung, Umschulung und gezielte Ausbildungspartnerschaften mit Herkunftsländern müssen gestärkt werden.
- Populismus entschlossen entgegentreten: Wer Sündenböcke konstruiert, aber keine Lösungen bietet, gefährdet nicht nur den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern auch die wirtschaftliche Resilienz des Landes.
Die IG Metall bekennt sich klar: Ohne Migration, verbesserte Integrationsanstrengungen der Länder und Kommunen, optimiertere Arbeitsmarktzugänge, faire Arbeitsbedingungen, starke Sozialpolitik und entschlossene Regionalförderung wird der demografische Wandel nicht zu bewältigen sein. Sachsen-Anhalt kann ein starker Industriestandort bleiben – aber nur, wenn der Mensch im Mittelpunkt steht: unabhängig von Herkunft, aber mit gleichen Chancen, Rechten und Perspektiven.