Mit der einseitigen Aufkündigung substanzieller Kernbestandteile des Haustarifwerks stellte der Konzern jahrzehntelang geltende Garantien zur Beschäftigungssicherung sowie etablierte tarifliche Standards fundamental infrage.
Dieser Vorgang markierte nicht weniger als einen Bruch in den sozialpartnerschaftlichen Beziehungen zwischen Unternehmensleitung, Gewerkschaft und Belegschaft – und leitete eine der intensivsten tarifpolitischen Auseinandersetzungen in der Unternehmensgeschichte ein. Es war der Bruch mit einer jahrzehntelang gelebten Grundmaxime: Herausforderungen werden im Schulterschluss mit den Beschäftigten bewältigt – niemals gegen sie und schon gar nicht unter deren Ausschluss.
Mit dieser Kündigung drohte nicht nur das faktische Ende der seit über drei Dekaden bestehenden Beschäftigungssicherung. Zugleich hätte sie die Schleusen für betriebsbedingte, massenhafte Kündigungen ab Mitte 2025 geöffnet. Flankiert wurde dies durch das Ziel, ganze Werke dichtzumachen und gravierende Einschnitte in tarifvertraglich kodifizierte Leistungen vorzunehmen – konkrete Vorhaben, die im Verlauf des Konflikts in regelmäßigen Abständen durch das Unternehmen öffentlich zur Schau gestellt wurden. Für zehntausende Beschäftigte in Niedersachsen, Sachsen und Nordhessen stand damit ihre finanzielle wie berufliche Lebensgrundlage auf dem Spiel – mit absehbaren sozioökonomischen Verwerfungen für ganze Regionen.
Der Schock in den Belegschaften saß entsprechend tief – und wirkte zugleich als Mobilisierungsimpuls von außergewöhnlicher Dynamik. Innerhalb weniger Tage entfaltete sich eine gewerkschaftliche Gegenwehr, wie sie Volkswagen seit Jahrzehnten nicht erlebt hatte: Massenhafte Teilnahme an Belegschaftsversammlungen, kraftvolle betriebliche Aktionen und schließlich im Dezember zwei Warnstreikwellen, bei denen jeweils annähernd 100.000 Beschäftigte die Arbeit niederlegten. Die Botschaft war unmissverständlich: Ohne Beschäftigungssicherung keine Zukunftsperspektive! „Volkswagen hat den Pfad des partnerschaftlichen Ausgleichs verlassen und stattdessen bewusst auf Konfrontation gesetzt“, konstatiert Thorsten Gröger, IG Metall-Bezirksleiter und Verhandlungsführer. „Anstatt gemeinsam konstruktive Lösungen zu erarbeiten, wurden Drohkulissen errichtet und Verunsicherung gezielt instrumentalisiert. Unser Auftrag war klar: Dieser Politik der Angst durfte kein Erfolg beschieden sein.“
„Mit der Dezember-Einigung inklusive der nun unkündbaren Beschäftigungssicherung haben wir die Basis dafür gelegt, dass Belegschaft und Vorstand wieder gemeinsam die nötigen Kraftanstrengungen leisten. Zu dem Kompromiss gehört, dass die Belegschaft ihren Teil jetzt bereits beigesteuert hat! Nun ist der Vorstand an der Reihe, in Sachen Produkt, Technologie und Strategie ebenso abzuliefern“, sagt Daniela Cavallo, Gesamtbetriebsratsvorsitzende der Volkswagen AG.
Mit einer strategischen Kombination aus unerschütterlicher Verhandlungsstärke, öffentlichem Druck und dem bemerkenswerten Zusammenhalt der Belegschaften gelang es der IG Metall, den Konzern an den Verhandlungstisch zurückzuführen. Es folgte ein zähes Ringen in der Tarifauseinandersetzung - kumuliert in über 100 Verhandlungsstunden und fünf hochintensiven Runden. Der Durchbruch gelang schließlich nach einem ununterbrochenen 70-Stunden-Marathon im Dezember 2024. Folgende Eckpunkte wurden damals vereinbart:
- Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis Ende 2030 durch unkündbare Beschäftigungssicherung
- Zusagen zu neuen Modellen und Investitionen in heimischen Produktionsstätten
- Sicherung des monatlichen Grundentgelts und Verhinderung von Werksschließungen
- Fortführung der Übernahmegarantie für Auszubildende
- Erneuerung des Entgeltsystems
- Exklusiver Bonus für IG Metall-Mitglieder
Gleichzeitig trugen die Beschäftigten substanziell und durchaus schmerzlich zur Einigung bei – etwa durch temporären Verzicht auf Teile der Ergebnisbeteiligung sowie das zeitlich befristete Aussetzen einer Tariferhöhung. „Wir wissen um die Schmerzgrenze, die viele Kolleginnen und Kollegen damit erreicht haben“, betont Gröger. „Doch im Bewusstsein der katastrophalen Folgen von Werksschließungen oder Massenentlassungen – nicht nur für die direkt Betroffenen, sondern für ganze Wertschöpfungsketten – war dies ein Kompromiss, der Sicherheit und Planbarkeit zur obersten Priorität machte.“
Die vielfach kolportierte Zahl von bis zu 35.000 Stellenstreichungen entstammt ausschließlich der unternehmensinternen Planungen und ist nicht Bestandteil des Tarifabschlusses. Im Gegenteil: Der Abschluss stellt sicher, dass ein möglicher Personalabbau ausschließlich sozialverträglich, einvernehmlich und flankiert durch Altersteilzeit, Vorruhestand, Qualifizierung sowie freiwillige Aufhebungsvereinbarungen erfolgt – nicht etwa durch Kündigungen.
Ohne diesen Abschluss wären ab Mitte 2025 betriebsbedingte Kündigungen Realität geworden und ganze Standorte hätten ihre Zukunftsperspektive verloren. Die sozioökonomischen Kollateralschäden wären enorm gewesen: der Verlust tausender Industriearbeitsplätze, Kaufkraftverluste in Milliardenhöhe, schwerwiegende Einbrüche bei Kommunalhaushalten. Stattdessen steht nun ein Ergebnis mit Signalwirkung weit über Volkswagen hinaus: Es demonstriert, dass selbst in Zeiten tiefgreifender Transformation und ökonomischen Drucks Beschäftigungssicherung möglich ist – wenn Belegschaften geeint handeln und Tarifparteien Verantwortung übernehmen.
Ein Jahr nach der Eskalation steht fest: Die Beschäftigten haben geliefert – durch Einkommenseinbußen Zeit gewonnen, den Strukturwandel abgesichert und Arbeitsplätze stabilisiert. Nun ist es am Unternehmen, den vereinbarten Fahrplan stringent umzusetzen und öffentlich unmissverständlich zu bekennen: Dieser Abschluss ist bindend – und er ist ein Bekenntnis zur gemeinsamen Zukunft.
Die Transformation der Automobilindustrie ist eine der gravierendsten Zäsuren in der Geschichte des Konzerns. Sie darf nicht als Vorwand dienen, die Lasten asymmetrisch auf die Schultern der Beschäftigten zu verlagern. Jetzt ist der Moment, in dem Volkswagen beweisen muss, dass es über reine Kostendisziplin hinaus gestalten kann: durch innovative Modelloffensiven, technologische Führungsansprüche bei Software, Plattformstrategien und Batteriezellen – und mit der klaren Ambition, die Branchenspitze zurückzuerobern. Nur so entsteht das Vertrauen, das Belegschaften, Regionen und Märkte gleichermaßen bindet.
Doch auch die Politik ist gefordert, substanziell zum Fortbestand und zur Zukunftsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie beizutragen. Die IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt adressiert daher an die Bundesregierung folgende Kernforderungen:
1. Industrielles Zukunftsprogramm zur Stärkung der Binnenkonjunktur
Deutschland benötigt kurzfristig wirksame Impulse für Investitionen und Nachfrage – nicht erst in ferner Zukunft, sondern jetzt. Öffentliche Mittel müssen gezielt in Infrastruktur, Schlüsseltechnologien und zentrale Industrien fließen, um Wertschöpfung und Arbeitsplätze zu stabilisieren. Das haushalterische Bereitstellen von Geldern sichert noch nicht, dass Finanzmittel dort ankommen, wo sie auch Wachstum auslösen.
2. Zukunftspaket Automobil – Hochlauf der Elektromobilität beschleunigen
Das Automobil ist weit mehr als ein Fortbewegungsmittel – es ist Herzstück der deutschen Industrie, Garant für Millionen Arbeitsplätze und Katalysator technologischer Innovation. Von der Stahl- und Chemieindustrie über den Maschinenbau bis zu hochspezialisierten Zulieferern hängen ganze Wertschöpfungsketten an seiner Zukunft. Der Hochlauf elektrischer Antriebe entscheidet daher nicht nur über Klimaziele, sondern über die industrielle Führungsrolle Deutschlands im 21. Jahrhundert. Wer hier ins Hintertreffen gerät, riskiert Standortverluste, Deindustrialisierung und das schrittweise Zerbröckeln wirtschaftlicher und sozialer Stabilität. Umgekehrt kann eine erfolgreiche Transformation der Automobilindustrie zum Motor für Beschäftigung, Wohlstand und technologische Souveränität werden – mit Strahlkraft weit über die Branche hinaus. Dazu braucht es:
- Gezielte Kaufanreize für privat und gewerblich angeschaffte E-Fahrzeuge, beispielsweise durch steuerliche Abschreibemöglichkeiten.
- Förderung gebrauchter E-Fahrzeuge zur schnellen Marktdurchdringung.
- Massiver Ausbau der Ladeinfrastruktur für Pkw und Nutzfahrzeuge – verpflichtend an Tankstellen, beim Handel, an Arbeitsplätzen.
- Stärkung der europäischen Wertschöpfung, etwa durch eine Local-Content-Strategie.
- Aufbau von Batteriezellfertigung und gesicherte Rohstoffversorgung.
3. Kaufkraft stärken – Verbraucher entlasten
Stabile Binnennachfrage braucht reale Entlastung für die arbeitende Mitte. Dazu gehören eine spürbare Steuerentlastung für kleinere und mittlere Einkommen und die konsequente Stärkung der Tarifbindung.
4. Verlässliche und faire Energiepreise
Die Bundesregierung hat versprochen, Energiepreise deutlich zu senken – die IG Metall pocht auf eine Einhaltung aller Zusagen zu wettbewerbsfähigen Energiepreisen entlang der gesamten Wertschöpfungskette - von der Industrie bis zum privaten Haushalt. Erste Schritte dazu wurden durch einen kürzlichen Kabinettsbeschluss gegangen, aber es braucht beispielsweise zügig einen Industriestrompreis.
5. Investitionsfreundliches Klima schaffen
Statt lähmender Krisenrhetorik braucht es eine Aufbruchserzählung: Deutschland kann industriellen Wandel gestalten. Das erfordert planbare Förderkulissen, beschleunigte Genehmigungsverfahren und eine Industriepolitik, die auf Wachstum, Innovation und sichere Beschäftigung zielt. Dafür braucht es auch eine neue Aufbruchserzählung statt permanentem Koalitionskrach sowie Krisenmodus.
„Der Tarifabschluss bei Volkswagen ist der Beweis, dass auch unter widrigsten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Lösungen möglich sind, die Arbeitsplätze sichern, Perspektiven eröffnen und sozialen Frieden wahren – sofern alle Beteiligten Verantwortung übernehmen“, so IG Metall-Verhandlungsführer Gröger. „Jetzt muss die Politik auf diesem Fundament aufbauen – mit einer Industriepolitik, die nicht im Nebel stochert, sondern klar Kurs auf Wachstum, Innovation und sichere Beschäftigung nimmt. Die Richtung muss stimmen und dann muss der Antrieb gezündet werden.“