Für die IG Metall ist diese Entwicklung weit mehr als die Krise eines einzelnen Unternehmens. Sie ist ein Fanal. Sie ist das sichtbare Symptom einer Industriepolitik, die zu lange von Zögern, Flickwerk und Abwarten geprägt war – in Magdeburg ebenso wie in Berlin und Brüssel. Wer jetzt noch glaubt, dass die Zukunft dieses Landes ohne industrielle Substanz zu sichern sei, der verkennt die Realität: Ohne Industrie kein Wohlstand, ohne Industrie keine Zukunft.
Es ist noch nicht lange her, da war die deutsche Solarindustrie ein globaler Taktgeber. Forschung, Entwicklung und Produktion bildeten ein einzigartiges Geflecht im Herzen Mitteldeutschlands. Aus dem „Solar Valley“ gingen Innovationen hervor, die die Energiewende überhaupt erst möglich machten. Heute liegt dieses Erbe in Trümmern. Über 90 Prozent der Solarmodule stammen aus China. Europa hat seine industrielle Souveränität verspielt. Die Energiewende wird auf Sonntagsreden beschworen, doch technologisch ist sie längst ausgelagert.
„Es geht nicht nur um Meyer Burger und nicht nur um Wolfen-Thalheim“, erklärt Thorsten Gröger, Bezirksleiter der IG Metall für Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. „Es geht um die Frage, ob Deutschland und Europa noch selbst Akteure der Energiewende sind oder ob wir nur noch Konsumenten fremder Technologien bleiben. Deutsche Unternehmen waren Pioniere in der Photovoltaikbranche, und Deutschland war lange vorne dabei bei der Produktion und der installierten Menge an Solarmodulen. Wir haben sie durch Managementfehler, politische Versäumnisse und globales Dumping verloren. Man muss es klar benennen: Das ist industriepolitisches Versagen!“
Sachsen-Anhalt ist ein Land, das seit Jahrzehnten um Zukunft ringt. Der industrielle Umbruch nach der Wende, die Verluste im Chemiedreieck, der strukturpolitisch herausfordernde Ausstieg aus der Braunkohle – all das hat tiefe Spuren hinterlassen. Die Solarindustrie war Hoffnungsträger und Versprechen zugleich: Hier sollte Zukunft entstehen, hier sollten Wohlstand und Arbeit aus Innovation erwachsen.
Doch nach Sovello 2012 und vielen weiteren Brüchen steht die Region erneut vor dem Abgrund. Rund 280 Köpfe in Wolfen-Thalheim sind nicht nur eine Zahl – sie sind der Inbegriff dessen, was hier auf dem Spiel steht. „Die Menschen in Wolfen-Thalheim haben Schicht um Schicht, Jahr um Jahr hart geackert. Sie haben Kurzarbeit getragen, Flexibilität gezeigt. Und nun stehen sie zum Teil wieder mit leeren Händen da“, sagt Almut Kapper-Leibe, Erste Bevollmächtigte der IG Metall Halle-Dessau. „Das ist nicht nur ein ökonomisches Desaster, es ist ein Schlag ins Gesicht dieser Region.“
Seit 2002 wird Sachsen-Anhalt von einer CDU-geführten Landesregierung regiert. Fördermittel wurden in dieser Zeit eingesetzt, doch eine zukunftsfeste Industriepolitik blieb – nicht zuletzt im Spannungsfeld internationaler Krisen – bislang Stückwerk. Umso wichtiger ist es jetzt, gemeinsam eine tragfähige Strategie zu entwickeln. Bezirksleiter Gröger mahnt: „Das ist ein Offenbarungseid. Wer eine Schlüsselbranche politisch allein lässt, darf sich nicht wundern, wenn sie verschwindet. Sachsen-Anhalt stand zu lange am Spielfeldrand, während andere Staaten ihre Industrien systematisch gestärkt haben. Das Ergebnis sehen wir heute exemplarisch in Wolfen-Thalheim.“
Doch die Verantwortung endet nicht in Magdeburg. Auch Berlin und Brüssel haben zugesehen, wie eine Schlüsseltechnologie entgleitet. Während die USA unter der Regierung Biden mit dem Inflation Reduction Act Milliarden in den Aufbau der Solarproduktion lenkte, herrschte in Europa das Prinzip Hoffnung und in Deutschland kleinteilige Flickschusterei. In den USA gibt es nun unter Präsident Trump eine Kehrtwende, großer Gewinner ist China. Man erlebt das Paradox, dass hierzulande die notwendige und richtige Energiewende beschworen wird, während ihre dafür notwendige industrielle Basis zerfällt.
Doch Industrie ist mehr als Statistik, sie ist Substanz. Sie schafft Exportkraft, finanziert den Sozialstaat, stiftet Identität und Perspektive. Dienstleistungen können ergänzen, aber sie können niemals ersetzen. Die IG Metall mahnt: Sachsen-Anhalt darf nicht den Irrglauben erliegen, Wohlstand lasse sich ohne Industrie sichern. Ohne industrielle Wertschöpfung, ohne Produktion, ohne Technologie wird Sachsen-Anhalt unweigerlich ins Abseits geraten.
„Wenn wir die Industrie preisgeben, verlieren wir mehr als Arbeitsplätze“, warnt Gröger. „Wir verlieren das Rückgrat unseres Wohlstands. Jetzt ist die Stunde, Industrie zu sichern, nicht sie abzuwickeln.“
Die IG Metall fordert nun massives Nachsteuern der Politik - sowohl vom Kabinett Haseloff als auch von Kanzler Merz:
- Strategische Industriepolitik: Schlüsselbranchen müssen gefördert werden – entschlossen, verlässlich, zukunftsfähig. Dafür braucht es einen klaren Kurs, der auch im Morgen trägt. Und bezahlbare Energie für die Industrie - nicht auf dem Papier, sondern in den Werken ankommend.
- Faire Wettbewerbsbedingungen: Europa darf sich nicht länger von Dumpingpreisen chinesischer Konkurrenz abhängig machen. Dafür braucht es einen starken, aber regelbasierten Freihandel und eine klare Local-Content-Strategie.
- Verbindliche Standortzusagen: Fördermittel dürfen nur fließen, wenn Arbeitsplätze und Standorte rechtlich bindend und mitbestimmt gesichert sind.
- Neue Innovationsallianzen: Sachsen-Anhalt braucht nicht zwingend ein zweites „Solar Valley“ – allerdings eine „Innovationsachse Ostdeutschland“ mit festem politischem Fundament. Dafür braucht es ein Zusammenwirken aller Bundesländer im Osten und nicht zuletzt strategisch flankierte Finanzmittel.
- Soziale Verantwortung: Beschäftigte dürfen nicht länger die Opfer von unternehmerischem Missmanagement und politischer Passivität sein. Im Wandel darf es keine weiteren Angriffe auf den Sozialstaat geben. Veränderung braucht Sicherheit, und Qualifizierung braucht finanzielle Leitplanken.
„Ohne Industrie keine Zukunft. Ohne Industrie kein Sachsen-Anhalt!“, fasst Gröger zusammen. Wer Schlüsselindustrien preisgibt, riskiert das Abgleiten in strukturelle Bedeutungslosigkeit. Das Land darf nicht zur europäischen Erinnerungslandschaft gescheiterter Industriepolitik werden, sondern muss zum Labor für Zukunft, Fortschritt und industrielle Erneuerung werden.